Berlin kann ein Ort für viele Menschen werden: 10 Millionen.

Welt ohne Grenzen: Das Wort Utopie scheint verdächtig geworden … Berlin müssen wir uns aber als einen glücklichen Ort vorstellen – Ein Gastbeitrag von @ArchieNaut

„Eine Brandwand kann nicht mehr entfernt werden,“ postuliert Manfred Rettig, der Vorstand der Stiftung zum Aufbau des Berliner Schlosses, im Interview zur Erklärung seines vorzeitigen Rücktritts der Berliner Morgenpost. Nach der nächsten Frage gibt er der Befürchtung Ausdruck, dass Nachfolger und Mit-Intendanten sein Werk empfindlich stören könnten, und er schließt mit der Warnung: „Für Utopien ist es zu spät!“

Während ich über das sperrige dictum noch sinniere, schließlich halten meine Synapsen den jahreszeitbedingten Winterschlaf, stolpere ich über einen Essay im Berliner Tagesspiegel mit dem Aufmacher: Eine Welt ohne Grenzen ist eine gefährliche Utopie. Über den Weg, den Angela Merkel eingeschlagen hat, bin ich entsetzt. Das geht vielen Juden hier so. Und plötzlich weiß ich: Es ist Zeit aufzuwachen, wir müssen reden.

Unter der Überschrift Warum ich als Jude ans Auswandern denke bescheinigt Michael Hasin den Willkommensbewegten in Deutschland, ja der gesamten deutschen Gesellschaft, eine gefährliche kosmopolitische Fantasterei, nämlich den Wille zum Niederreißen aller nationalen Grenzen, und schlägt den ganz großen Bogen von Stalin zu Merkel: „Und es war auch schon einmal so, dass eine gut gemeinte Sache fatale Folgen hatte: Die Konsequenzen der kommunistischen Utopie in Russland sind bekannt. Welche Konsequenzen wird nun die kosmopolitische Utopie in Deutschland haben, wenn man sie realisiert, also wenn es einfach so weiter geht wie bisher?“ Danach skizziert er verschiedene dystopische Szenarien, interethnische Spannungen, Zuzug von Kriminellen und Terroristen, Radikalisierung der Einheimischen, den finalen Bankrott des Sozialstaats gar und behauptet schließlich, eine große Vision mit einem Überfluss an Pathos und einem Mangel an Realitätssinn sei das allgemeine Merkmal von Utopien. Die Idee des Nationalstaats sei möglicherweise auch eine Utopie, möchte man da gerne schnell einwerfen …. „eine Fehlentwicklung der Moderne, nicht notwendig, nicht unausweichlich, vor allem nicht praktikabel“, führte Georg Diez vor einiger Zeit aus.

„Das Schloss sollte ein Palast der Willkommenskultur sein“, kommentiert der Tagesspiegel den Rücktritt und erfüllt damit, wenn auch unfreiwillig, die oben angeführte Definition der Begrifflichkeit Utopie…. Manfred Rettig hat als Vorstand mit dem Aufbau des Berliner Schlosses ein umfangreiches Projekt auf dem Weg zur baulichen Umsetzung begleitet (knapp hunderttausend Quadratmeter Geschossfläche laut Bebauungsplan, um genau zu sein) und möchte sich nun von der Verantwortung verabschieden, das ist verständlich…. bei den biographischen Daten unter dem Essay des auswanderungswilligen Autor muss ich mir aber verwundert die Augen reiben: Michael Hasin wurde 1989 in Tallinn (Estland) geboren, studierte in Berlin und Paris. Er arbeitet als Jurist in Hamburg.

Hasin wurde also im Jahr des deutschen Wintermärchens geboren, hat für seine Ausbildung bereits mehrere Staatengrenzen überwunden und schreibt heute: Die beiden großen Utopien der letzten Jahre, die Flüchtlingsutopie und die Austeritätsutopie haben dabei maßgeblich zur Destabilisierung Europas beigetragen, dazu, dass der Zerfall der EU ein realistisches Szenario geworden ist. Bemerkenswert, dass sowohl die eine, wie auch die andere Utopie hauptsächlich von der deutschen Bundesregierung verfochten wurde, ohne Rücksicht auf Konsequenzen.

Als Ziel seiner Auswanderungswünsche gibt er an: Israel, und dies scheint nicht einmal als ironische Schlusspointe gesetzt. So möchte man ihm persönlich gerne wünschen, dass der real existierende israelische Staat nicht eines Tages ebenso verschwinde wie jenes deutsche Staatswesen, das sich im Jahr 1989 zügig von der politischen Bühne verabschiedete, unvorhersehbar und doch dem klaren Gesetz folgend, dass Menschenwille vergänglich ist … eine große Vision mit einem Überfluss an Pathos und einem Mangel an Realitätssinn (Zitat Hasin, siehe oben).

Sechzig Millionen Menschen weltweit sind inzwischen auf der Flucht, so eine überschlägige Schätzung des Uno-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), und die Zahlt steigt von Quartal zu Quartal. Ein Drittel, also knapp 20 Millionen, haben das Heimatland verlassen, und es könnte sich als Illusion herausstellen, dass sie jemals wieder in ihre Heimat, an den Ort ihrer Geburt und Herkunft zurückkehren können. Im Flüchtlingscamp Dadaab leben heute 500.000 Menschen, die erste Generation kam 1992 aus Somalia. Die Welt hat sie längst vergessen.

Vertrieben sein, heißt auf der Wanderung zu sein, bis der bessere Ort, der Hafen der Ankunft, das versprochene Land oder die strahlende Stadt erreicht ist. Dadaab ist „kein Ort“, aber nicht im Sinn der Insel Utopia, jener idealen Gesellschaft, die Thomas Morus für seinen Roman vor fünfhundert Jahren erfunden hat.

311 Millionenstädte zeigt die aktuelle Liste bei Wikipedia heute, an fünfter Stelle liegt Istanbul mit 14.377.018, an neunter Moskau mit 11.551.930 Einwohnern, London folgt auf Platz 17 mit 8.538.689 Bewohnern. Die größte Stadt in Deutschland, das wiedervereinigte Berlin mit 3.421.829 gezählten Bürgerinnen und Bürgern, hält heute den Listenplatz 57.

Berlin müssen wir uns als einen glücklichen Ort vorstellen.

Berlin wurde bis heute nicht von den Landkarten getilgt, obwohl die politischen Herrscher in Berlin immer wieder die Nachbarn bedroht und mit Krieg übersät haben.

Berlin wurde nicht von einer schweren Sturmflut getroffen, nicht von einem Erdbeben zerstört oder von einem Vulkan begraben.

Berlin fand Unterstützung und Solidarität in schwierigen Zeiten.

Berlin kann ein Ort für viele Menschen werden: 10 Millionen.

Erinnern wir uns, dass Berlins Einwohnerzahl zwischen 1800 und 1900 um über tausend Prozent von 170.000 auf etwa 1,9 Millionen Bewohner stieg, ermöglicht durch Flächenerweiterungen und soziale wie technische Innovationen, durch Gewerbefreiheit, durch Ansammlung von Kapital und Wissen, durch massentaugliche Verkehrsmittel und technische Infrastrukturen in großem Maßstab.

Erinnern wir uns weiter, dass die Stadt Berlin von heute erst im Jahr 1920 als Groß-Berlin erfunden wurde und in den Jahren danach von 3,9 auf 4,5 Millionen Einwohnern wuchs, bis die Kriegszerstörungen ab 1942 herbe Verluste und Vertreibungen verursachten und eine Zäsur für lange Zeit setzten.

Wäre die erhebliche Wiederaufbauleistung der beiden deutschen Staaten und ihrer frühen Unterstützer bruchlos in die Entwicklung, Pflege und Erneuerung des Bestands investiert worden, so hätte Berlin zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zehn Millionen Einwohner gezählt…. Heute im Jahr 2016 leben im Raum der Metropole erst rund 6 Millionen.

Wir müssen darüber reden, wie 10 Millionen Menschen in Berlin ernährt werden können, wie sie schlafen und träumen können, wie sie ihre Freunde und Familien finden, wie sie ihre Kinder zur Welt bringen und aufziehen können.

Wir müssen darüber reden, wie 10 Millionen Menschen in Berlin gesund werden und gesund bleiben können, alte wie junge und ganz junge, welche hygienischen, psychischen und sozialen Belastungen zu erwarten sind und mit welchen Mitteln und Einrichtungen ihnen zu begegnen ist.

Wir müssen darüber reden, in welchen Sprachen wir in Berlin denken und diskutieren, welche Sprachen in den Schulen gelehrt und gelernt werden, welche in den Krankenhäusern und Behörden, auf den Straßen und öffentlichen Plätzen verstanden, in den privaten Wohnungen gesprochen, aus den Gebetshäusern in die Himmel gesendet und in den Bibliotheken Berlins gesammelt und archiviert werden.

Wir müssen darüber reden, welche Strategien und Instrumente zur Regulierung von Gewalt und zerstörerischen wie auch kriminellen Energien eine friedliche zivile Gesellschaft in Berlin entwickeln kann, um den sozial nachteiligen Folgen von Verdichtung und Strukturveränderung zu begegnen.

Wir müssen darüber reden, ob die vorhandenen Märkte und Institutionen in Berlin Versorgung und Teilhabe für 10 Millionen Menschen in angemessener Weise gerecht herstellen und absichern können, auch die Scheidung zwischen privatem Besitz und Gemeinvermögen ist dabei vielleicht neu zu verhandeln.

Wir müssen darüber reden, wie unsere Verkehrssysteme 10 Millionen Menschen in Berlin sicher bewegen können, so individuell wie notwendig, so schnell wie erwünscht und so sparsam wie möglich.

Wir müssen darüber reden, wie unsere Schlaf- und Arbeitsstätten in Berlin organisiert und ausgerüstet sind, welche Wohnungen 10 Millionen Menschen benötigen, welche Räume sie suchen, um ihre Freunde, Kollegen oder Geschäftspartner zu finden und welche Freiräume sie sich wünschen, um das Wetter zu spüren.

Wir müssen darüber reden, wie eine Stadt von 10 Millionen Einwohnern Teil der Natur unseres Planeten bleiben kann, ein komplexes Gebilde im Klima- und Wasserhaushalt Mitteleuropas, eine mächtige Irregularität als Ergebnis menschlicher Zivilisation und Kultur.

Und wir dürfen darüber reden, was ein Menschenleben wert ist, eins von 10 Millionen, über den Sinn des Lebens als Teilnehmende, als Produzierende, als Verbrauchende, als Lernende, als Gebende, über Chancen und Grenzen demokratischer Teilhabe, über die Freiheit des Individuums in einer kommunizierenden Welt.

Berlin soll eine Hauptstadt bleiben und werden, nicht nur der Deutschen, sondern auch der Europäer … jeder Nation, jeden Glaubens.

Wir sind die an Grenzen gehen und darüber hinaus, weil: Da liegt Utopia.

 

Am 30.01.2016 erschien dieser Text von @ArchiNaut erstmalig auf freitag.de.

Quellen:

morgenpost.de/kultur/article206931353/Manfred-Rettig-fordert-Vollzeitintendanten-fuer-Schloss.html

tagesspiegel.de/politik/deutschland-und-die-fluechtlinge-warum-ich-als-jude-ans-auswandern-denke/12868328.html

spiegel.de/kultur/gesellschaft/demokratie-georg-diez-ueber-die-stadt-als-ort-der-zukunft-a-977866.html

tagesspiegel.de/kultur/debatte-ueber-das-humboldt-forum-in-berlin-das-schloss-sollte-ein-palast-der-willkommenskultur-sein/12840576.html

tagesspiegel.de/kultur/streit-um-humboldt-forum-in-berlin-gruetters-projekt-ist-groesser-als-die-handelnden-personen/12852544.html

spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-60-millionen-menschen-weltweit-auf-der-flucht-a-1039321.html

economist.com/news/books-and-arts/21688834-how-world-forgot-dadaab-cheek-jowl?fsrc=scn/tw/te/pe/ed/Cheekbyjowl

 

Abbildung: Ferdinand Boehm, Karte der Gebietserweiterung von 1861 (topografische Aufnahme, Kartografie), gestochen von W. Bembé – Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Wikimedia Commons

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