Neue NEST-Unit “Sprint”: Kreislaufgerechtes Bauen – vom Rückbau zum Re-Use – in kürzester Zeit

Flexibel nutzbare und COVID-19-konforme Büroräume aus größtenteils wiederverwendeten Materialien und Bauteilen bietet eine neue Nutzungseinheit (“Unit”) im NEST, dem modulare Forschungs- und Innovationsgebäude der beiden Schweizer Forschungsinstitute Empa und Eawag.

Das in nur zehn Monaten realisierte Projekt zeigt: Der Bestand an wiederverwendbaren Materialien sowie das Re-Use-Potential in der Industrie sind groß – sie müssen nur kreativ genutzt werden!

NEST ist das modulare Forschungs- und Innovationsgebäude der beiden Schweizer Forschungsinstitute Empa und Eawag. Es wurde 2016 eröffnet und steht auf dem Empa-Campus in Dübendorf. Im NEST arbeiten mehr als 150 Partner aus Forschung, Wirtschaft und öffentlicher Hand eng zusammen. Neue Technologien und Baukonzepte werden im NEST unter realen Bedingungen getestet, weiterentwickelt und im Praxisalltag demonstriert. Dies führt dazu, dass innovative Bau- und Energietechnologien schneller auf den Markt kommen.

Flexibel nutzbare Büroflächen nach dem “Design for Disassembly”-Ansatz

Mit der neuen Unit “Sprint” wurde im August 2021 im NEST eine Büroeinheit aus größtenteils wiederverwendeten Materialien und Bauteilen feierlich in Betrieb genommen. Flexibel rückbaubare Trennwände aus Re-Use-Materialien teilen die Büroeinheit in zwölf COVID-19-konforme Einzelbüros auf und verleihen der Unit einen einzigartigen Charakter.

Für die Fassade der Sprint-Unit wurden die Holzlatten des NEST "Backbone", die beim Einfügen der neuen Unit abmontiert wurden, wieder- verwendet. Die PV-Module stammen aus vergangenen Projekten. (Foto: Martin Zeller)
Für die Fassade der Sprint-Unit wurden die Holzlatten des NEST “Backbone”, die beim Einfügen der neuen Unit abmontiert wurden, wieder- verwendet. Die PV-Module stammen aus vergangenen Projekten. (Foto: Martin Zeller)

Die gesamte Unit folgt dem “Design for Disassembly”-Ansatz, so dass bei Bedarf unter anderem die flexiblen Trennwände rückgebaut werden und so die Einzelbüros als Mehrpersonen-Büros verwendet werden können. Die Fertigstellung von Sprint demonstriert, was in der Bauwirtschaft heute noch immer auf Skepsis stösst: Das Bauen mit wiederverwendeten Materialien und Bauteilen ist eine valable Alternative zum Bauen mit Neumaterial und wird den Marktanforderungen an flexibles und schnelles Bauen gerecht.

“In einer Welt, in der die Ressourcen stetig knapper werden, ist kreislaufgerechtes Bauen dringlicher denn je und bildet die Grundlage zur Erreichung unserer CO2-Ziele. Mit der Sprint-Unit haben wir uns deshalb zum Ziel gesetzt, möglichst allgemeingültige Lösungen zu finden und damit die Wiederverwendung von Baumaterialien zu vereinfachen.”

Enrico Marchesi, Innovation Manager und Projektverantwortlicher, NEST

Die vorproduzierten Holzmodule wurden per Gabelstapler auf die unterste Plattform des NEST-Gebäudes auf dem Empa-Campus gehoben (Foto: Martin Zeller)
Die vorproduzierten Holzmodule wurden per Gabelstapler auf die unterste Plattform des NEST-Gebäudes auf dem Empa-Campus gehoben (Foto: Martin Zeller)
Wiederverwendetes Holz aus verschiedenen Quellen kommt in der Sprint-Unit erneut zum Einsatz. Das erst zehn Jahre alte Bauholz wurde von einer Zimmerei zu Holzmodulen verarbeitet. (Foto: Martin Zeller)
Wiederverwendetes Holz aus verschiedenen Quellen kommt in der Sprint-Unit erneut zum Einsatz. Das erst zehn Jahre alte Bauholz wurde von einer Zimmerei zu Holzmodulen verarbeitet. (Foto: Martin Zeller)
Die Holzmodule aus wiederverwendetem Bauholz bilden die Aussen- und teilweise die Innenwände der Sprint-Unit (Foto: Martin Zeller)
Die Holzmodule aus wiederverwendetem Bauholz bilden die Aussen- und teilweise die Innenwände der Sprint-Unit (Foto: Martin Zeller)
Auf der untersten Plattform des NEST-Gebäudes wurden die Holzmodule miteinander verschraubt. Als Dämmung wurden gebrauchte Steinwollplatten, Stroh und Aerogel verwendet. (Foto: Martin Zeller)
Auf der untersten Plattform des NEST-Gebäudes wurden die Holzmodule miteinander verschraubt. Als Dämmung wurden gebrauchte Steinwollplatten, Stroh und Aerogel verwendet. (Foto: Martin Zeller)

Kreislaufgerechtes Bauen erfordert ein Umdenken beim Planen, Ausführen und Wirtschaften

Das Bauen mit wiederverwendeten Materialien ist ein iterativer Prozess, bei dem sich die Frage nach den verfügbaren Materialien durch den ganzen Bauprozess hindurchzieht. Damit ein solches Projekt in kürzester Zeit umgesetzt werden kann, benötigt es unter anderem ein Umdenken in der Planung und Ausführung sowie einen flexiblen Zeitplan.

“Der Faktor Zeit ist beim Re-Use immer eine grosse Herausforderung, da das wiederverwendete Material zeitgerecht gefunden werden und auch zur Verfügung stehen muss. Entgegen unseren anfänglichen Bedenken gegenüber dem knappen Zeitplan, konnten wir die Re-Use-Materialien sogar schneller als neues Material finden. Das hängt vor allem mit der aktuellen Ressourcenknappheit zusammen – zeigt aber auch, dass Re-Use keine Auswirkungen auf die Bauzeit hat”, erklärt Kerstin Müller, Architektin und Mitglied der Geschäftsleitung beim baubüro in situ, das die Sprint-Unit geplant hat.

Der Mehrwert beim Re-Use liegt im respektvollen Umgang mit dem Baumaterial

Auch beim Verständnis von Wirtschaftlichkeit erfordert das Bauen mit wiederverwendeten Materialien ein Umdenken. Der Mehrwert beim Re-Use liegt klar darin, dass dem Material den nötigen Respekt gezollt wird. Hans Emmenegger, Spartenleiter Zimmerei bei HUSNER Holzbau, sieht darin grosse Chancen: “Ich bin klar der Meinung, dass zum Beispiel Holz ein sehr dankbarer Rohstoff ist. Man kann es gut bearbeiten, was es wiederum gut wiederverwendbar macht. Wenn Holz gesund, also trocken, eingebaut wird, verliert es nicht an Wert. Im Gegenteil, es gewinnt durch die charakteristische Ästhetik sogar an Wert.”

Das Bauen mit wiederverwendeten Materialien erfordert neben der Flexibilität in der Planung und Ausführung auch mehr Flexibilität in der Gestaltung. So müssen sich Planer bewusst sein, dass das gefundene Material zum Teil auch das finale Design bestimmt.

“Dass wiederverwendetes Material keineswegs eine Hürde für die Gestaltung darstellt, sondern dass man mit Kreativität gestalterische Elemente erreicht, auf die man ursprünglich gar nicht gekommen wäre, zeigt Sprint eindrücklich. Ein schönes Beispiel hierfür sind die unterschiedlichen Trennwände. Einige haben wir aus Ausschuss-Ziegeln, andere aus alten Büchern und wieder andere aus altem Teppich gebaut.”

Oliver Seidel, Architekt, baubüro in situ ag

Eine Trennwand aus alten Teppichfliesen – vollständig rückbaubar

Die Teppichtrennwand etwa hat Jonas Schafer, Bauteiljäger beim baubüro in situ, für Sprint entwickelt. Sie kann nach ihrer Verwendung vollständig rückgebaut werden kann. Forschende der Empa haben die Wand im Akustiklabor auf Luftschalldämmung geprüft. Die Teppichtrennwand hat sich hinsichtlich ihrer bauakustischen Eigenschaften bewährt und tritt nun – eingebaut in die Büroräumlichkeiten der neuen NEST-Unit – den Praxistest an.

Die eigens für die Unit Sprint konzipierte "Teppichwand" besteht aus wiederverwendeten Teppichfliesen und kann nach Verwendung vollständig rückgebaut werden. Die Teppichwand wurde im Akustiklabor der Empa auf ihre Luftschalldämmung geprüft und tritt nun in der Unit den Praxistest an. (Foto: Martin Zeller)
Die eigens für die Unit Sprint konzipierte “Teppichwand” besteht aus wiederverwendeten Teppichfliesen und kann nach Verwendung vollständig rückgebaut werden. Die Teppichwand wurde im Akustiklabor der Empa auf ihre Luftschalldämmung geprüft und tritt nun in der Unit den Praxistest an. (Foto: Martin Zeller)
In der Sprint-Unit erhielten sowohl ein Fertigparkett als auch ein Parkett aus Massivholz ein zweites Leben. Das Fertigparkett wurde ausgeschnitten und in der Unit neu zusammengelegt. Das Massivparkett wurde geschliffen, geölt und anschliessend 1:1 verlegt. Dahinter die blaue "Teppichwand" aus wiederverwendeten Teppichfliesen (Foto: Martin Zeller)
In der Sprint-Unit erhielten sowohl ein Fertigparkett als auch ein Parkett aus Massivholz ein zweites Leben. Das Fertigparkett wurde ausgeschnitten und in der Unit neu zusammengelegt. Das Massivparkett wurde geschliffen, geölt und anschliessend 1:1 verlegt. Dahinter die blaue “Teppichwand” aus wiederverwendeten Teppichfliesen (Foto: Martin Zeller)

Re-Use kann wiederverwertbare Produkte erschwinglich machen

Sprint zeigt, dass Wiederverwendung in der heutigen Marktlage per se nicht billiger ist. Oliver Seidel ist jedoch überzeugt: “Sobald sich ein wettbewerbsfähiger Markt mit wiederverwendeten Materialien und Bauteilen etabliert hat, werden auch beim Re-Use Kostenvorteile anfallen. Ausserdem bin ich der Meinung, dass es z.B. eine CO2-Besteuerung braucht, die kostenmässig neue Materialien be- und gebrauchte Materialien entlastet, um so den ökologischen Mehrwert beziffern zu können.”

Re-Use bietet zudem neue Möglichkeiten. So werden gewisse wiederverwendete Materialien wie Naturstein oder automatisch schliessende Brandschutztüren auf einmal erschwinglich, im Gegensatz zu denselben Bauteilen als Neumaterial. Darüber hinaus kann das Material hinsichtlich der CO2-Einsparung bewertet werden.

Die Akustikdecke der Unit wurde zu einer Heiz- und Kühldecke aufgerüstet. Dabei wurden die Kupferleitungen mit einer speziell dafür entwickelten, mobilen Maschine auf die Akustikelemente gepresst. (Foto: Martin Zeller)
Die Akustikdecke der Unit wurde zu einer Heiz- und Kühldecke aufgerüstet. Dabei wurden die Kupferleitungen mit einer speziell dafür entwickelten, mobilen Maschine auf die Akustikelemente gepresst. (Foto: Martin Zeller)
Eine der Bürotrennwände in der Sprint-Unit besteht aus Ziegeln, die eigentlich als Ausschuss auf der Deponie gelandet wären. Damit diese beim Rückbau wieder sortenrein getrennt werden können, wurden sie mit Lehm vermauert. (Foto: Martin Zeller)
Eine der Bürotrennwände in der Sprint-Unit besteht aus Ziegeln, die eigentlich als Ausschuss auf der Deponie gelandet wären. Damit diese beim Rückbau wieder sortenrein getrennt werden können, wurden sie mit Lehm vermauert. (Foto: Martin Zeller)

Bei anderen Materialien wie Pumpen, Ventilen und anderen technischen Komponenten stellt sich hinsichtlich der Garantie und Lebensdauer die Frage, ob sich das Wiederverwenden lohnt. Es ist gut möglich, dass es sinnvoller ist, diese Komponente neu zu beschaffen.

Die Überprüfung der Lebensdauer solcher technischen Komponenten ist zwar machbar, aber zeitintensiv und aufwendig. “Die Herausforderung beim Bauen mit wiederverwendeten Materialien ist es, eine Balance zwischen dem technisch Machbaren und dem technisch Sinnvollen zu finden”, so Maike Stroetmann, Abteilungsleiterin BIM CAD bei Bouygues Energies & Services.

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